Sensitivitätsmodell

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Einleitung

Eines der interessantesten Themen, auf die ich bisher gestoßen bin, ist das Thema des Sensitivitätsmodells, wie es von Professor Frederic Vester in seinem Buch “Die Kunst vernetzt zu denken – Der neue Bericht an den Club of Rome” beschrieben wird. Es ist ein ein Buch, das ich jedem Menschen nur ans Herz legen kann. Warum ist die Fähigkeit, vernetzt zu denken im Umgang mit Komplexen Systeme so wichtig? Ist der Umgang mit komplexen Systemen nur etwas für Wissenschaftler oder betrifft dieses Thema uns alle? Die meisten Menschen nehmen das Wort System oft in den Mund. Was aber ist ein System? Was ist ein Komplexes System? Diese Fragen möchte ich gerne in diesem Artikel erläutern. Ziel dieses Artikels ist es, ein Bewußtsein dafür zu vermitteln, dass komplexe Systeme allgegenwärtig sind und dass sie ein Eigenleben haben – aber eins nach dem Anderen …

Was ist ein System?

“Ein System ist eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine Aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können und sich in dieser Hinsicht gegenüber der sie umgebenden Umwelt abgrenzen.” Quelle: Wikipedia Also kann ein Auto zum Beispiel als System gesehen werden. Der Motor des Autos ist wiederum ein eigenes Untersystem, dass in das System Auto integriert ist. Der Kühlkreislauf des Automotors ist wiederum ein Untersystem des Automotors.

Auch ein Mensch ist ein System, das aus vielen unterschiedlichen Organen besteht. Der Blutkreislauf ist ein Untersystem des Systems “Mensch”. Ein rotes Blutkörperchen ist ein Untersystem des Systems “Blutkreislauf”. Der Zellkern des roten Blutkörperchens ist ein Untersystem des Systems “rotes Blutkörperchen” usw.

Diese Denkweise bezeichnet man als Systemdenken. Das Systemdenken ermöglicht es, bei komplexen Vorgängen den Überblick zu behalten. Zwischen dem System “Auto” und dem System “Mensch” gibt es aber wesentliche Unterschiede. Einem Auto fehlen viele Eigenschaften, die typisch für komplexe Systeme wie z.B. dem Menschen sind.

Was ist ein komplexes System?

Die Beantwortung dieser Frage liegt mit besonders am Herzen, weil sie ganz wesentliche Grundlagen darüber enthält, womit man es bei einem komplexen System zu tun hat. Die Antwort auf diese Frage soll dem Leser auch ein Gefühl dafür vermitteln, einem Komplexen System mit einem gewissen Respekt gegenüber zu treten. Man hat es bei komplexen Systemen immer mit einem System zu tun, das ein Eigenleben besitzt. Ein solches System lässt sich nicht einfach so unbeschadet ändern, aber dazu komme ich später. Zunächst soll der Begriff des komplexen Systems geklärt werden:

Komplexe Systeme zeigen eine Reihe von Eigenschaften:

  • Nichtlinearität: Kleine Störungen verursachen gravierende und unterschiedliche Ergebnisse.
  • Emergenz: Komplexe Systeme bilden spontan Phänomene heraus.
  • Wechselwirkung: Einflüsse auf ein Systemteil haben globale Auswirkungen bezogen auf das gesamte System.
  • Offenes System: Komplexe Systeme sind abhängig vom Durchfluss von Energie und Materie
  • Selbstorganisation: Komplexe Systeme können “lernen”
  • Selbstregulation: Komplexe Systeme haben die Fähigkeit zur Selbstregulation und zur Selbstheilung.
  • Komplexe Systeme sind abhängig von ihrer Vorgeschichte
  • Attraktoren: Komplexe Systeme streben gewisse stabile Zustände an, die aber chaotisch variieren können.

Die menschliche Gesellschaft zum Beispiel ist ein komplexes System mit einem Eigenleben. Eine Gesellschaft hat das Bestreben, gewisse stabile Zustände anzustreben. Zum Beispiel kann ein stabiler Zustand darin bestehen, dass eine Gesellschaft eine demokratische Regierungsform ausbildet, die dann eine Zeit lang stabil bleibt. Durch äußere Einflüsse oder durch innere Vorgänge können in einer menschlichen Gesellschaft Umbrüche in Gang gesetzt werden, die dazu führen, dass zum Beispiel ein Diktator die macht ergreift und die Bevölkerung tyrannisiert. Dieser Zustand kann dann wieder über Jahrzehnte hinweg stabil bleiben. Die Gesellschaft wird immer versuchen, stabile Zustände anzustreben, um weiter zu funktionieren und zu überleben.

Angenommen, wir denken uns ein erfundenes Land, das von einer Parteidiktatur tyrannisiert wird. Wir sehen die Zustände in diesem Land und wollen den Menschen in diesem erfundenen Land helfen. Die Menschen sollen so leben können, so wie wir uns ein glückliches erfülltes leben vorstellen. Wir behalten im Hinterkopf, dass dieses erfundene Land ein komplexes System ist – das ist sehr wichtig. Wie können wir den Menschen in diesem Land helfen? Angenommen, wir greifen in dieses Land militärisch ein, stürzen die dortige Regierung und stören die gewachsenen Strukturen der dortigen Gesellschaft sprunghaft. Die Folge ist, dass durch die Zerschlagung der gesellschaftlichen Strukturen auch die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft stark geschwächt sind, und das Land wird für lange Zeit in noch größeres Elend stürzen. Die Menschen in dem erfundenen Land haben über Jahrzehnte gelernt, das beste aus der Tyrannei zu machen und müssen nun nach der Zerstörung ihrer Systemstrukturen ihre Kraft dazu aufwenden, neue Strukturen aufzubauen und gleichzeitig zu überleben. Die Folge ist meist, dass ein neuer Tyrann die Macht in dem Land ergreift und noch mehr Elend erzeugt wird.

Was wäre, wenn wir das erfundene Land einfach in Ruhe lassen und den Menschen dort nicht “helfen”? Was wäre, wenn wir auf die Selbstheilungskräfte von komplexen Systemen vertrauen, sprich wenn wir den Menschen dort zutrauen, dass sie eigene Lösungen entwickeln können? Was wäre, wenn wir den Menschen in diesem erfundenen Land einfach ein guter Nachbar sind und die Idee einer freien Gesellschaft selbst praktizieren, anstatt sie anderen aufzuzwingen? Die Menschen in dem erfundenen Land würden sehen, wie wir leben und sie würden die Dinge von uns übernehmen, mit denen sie etwas anfangen können. Sie hätten vor allem Zeit, sich an die fremden Ideen zu gewöhnen und diese Dinge auf ihre Bedürfnisse anzupassen. Veränderungen würden sich so ohne eine Zerstörung der Systemstruktur vollziehen, wenn die Zeit reif dafür ist.


Sechs Fehler im Umgang mit komplexen Systemen

Wir Menschen neigen dazu, linear zu denken. Wir sehen eine Ursache und die wesentlichste Wirkung dieser Ursache. Wir stoßen zum Beispiel ein Glas Milch um und sehen, wie die Milch über den Tisch auf den Boden läuft. Das können wir begreifen. Wir begreifen auch, dass wir die Milch wieder aufwischen müssen, weil die Milch auf dem Boden nach einigen Tagen beginnt zu stinken. Das ist dann ekelig und wir begreifen diese Wirkungskette relativ gut, weil wir solche Situationen gewohnt sind.

Ein Glas umgeschütteter Milch hat aber weitreichende Konsequenzen, die sich auf das ganze weitere Leben auswirken können. Ein Beispiel: Wenn ich das Glas Milch umschütte, dann ärgere ich mich. Warum ich mich ärgere? Wahrscheinlich, weil sich meine Eltern schon geärgert haben, wenn sie eine Tasse Kaffee umschütteten? Die Ursachen sind vielfältig und liegen im Dunkeln. Auf jeden Fall ärgere ich mich und verliere wertvolle Zeit beim aufwischen. Warum ist die zeit so wertvoll, dass mich der Verlust der Zeit ärgert. Nun ja, wir leben in einer Gesellschaft, in der man einen Großteil des Tages mit Erwerbsarbeit verbringen muss, um zu überleben. Auch hier sind die Ursachen komplex. Nun gut, ich ärgere mich wegen der Milch und fahre dann schlecht gelaunt und unvorsichtig zu einem Geschäftstermin. Ich fahre zu schnell und nehme einem Autofahrer die Vorfahrt. Der Autofahrer erschrickt und bremst scharf. Der Unfall wird verhindert aber der Autofahrer ist für den Rest des Tages schlecht gelaunt. Die Geschichte des Autofahrers verändert sich an diesem Tag durch den Schreck, aber das ist eine andere Geschichte. So hinterlässt das verschüttete Glas Milch seine Spur komplexen System der menschlichen Gesellschaft.

Diese kleine Geschichte war ein Beispiel des vernetzten Denkens im Gegensatz zum linearen Denken. Aus der Vernachlässigung des vernetzten Denkens folgen wesentliche Fehler im Umgang mit komplexen Systemen.

  • Falsche Zielbeschreibung: Probleme werden durch Bekämpfung der Symptome nur scheinbar beseitigt.
  • Unvernetzte Situationsanalyse: Es werden nur ausgewählte aspekte eines komplexen Systems isoliert betrachtet
  • Irreversible Schwerpunktbildung: Die wesentlichen Mechanismen werden nicht erkannt. Es wird an Symptomen manipuliert, deren Auswirkungen aber nur unwesentlich sind.
  • Unbeachtete Nebenwirkungen: Die Nebenwirkungen von Maßnahmen werden nicht beachtet.
  • Tendenz zur Übersteuerung: Das komplexe System reagiert mit Verzögerung auf Steuerungsversuche. Darum wird der Steuerungsversuch übertrieben.
  • Tendenz zu Autoritärem Verhalten: Das komplexe System wird willkürlich umstrukturiert, ohne Rücksicht auf Regelkreise, die unterstützend wirken könnten. Es wird außerdem von außen entschieden, was gut oder schlecht zu sein hat.

Wie ist also mir komplexen Systemen umzugehen, nachdem wir uns ihre grundlegenden Eigenschaften bewußt gemacht haben? Das soll in der Fortsetzung dieses Artikels mit dem einstieg in die Kybernetik erläutert werden.


Ein kleiner Einstieg in die Kybernetik

In den letzten beiden Artikeln habe ich erläutert, was komplexe Systeme sind und welche Eigenschaften sie haben. In diesem Artikel möchte ich in die Kybernetik einsteigen und erläutern, welche Eigenschaften ein komplexes System aufweisen muss, damit es selbstorganisierend sein kann. Diese Eigenschaften sind in den Systemen in der Natur bereits seit Jahrmillionen in praktischer Anwendung.

In einem ersten Schritt möchte ich aber zuerst einmal den Begriff der Kybernetik erklären:

Die Kybernetik erforscht und beschreibt hierbei die grundlegenden Konzepte zur Steuerung und Regulation von Systemen, unabhängig von ihrer Herkunft. [Quelle: Wikipedia]

Die acht goldenen Regeln der Kybernetik

Die Kybernetik hat acht Regeln beschrieben, die für ein selbstorganisierendes komplexes System notwenig sind.

  • Negative Rückkopplung muss über positive Rückkopplung dominieren. Die positive Rückkopplung ist selbstverstärkend und beschleunigt die Vorgänge, die negative Rückkopplung verhindert, dass sich die Selbstverstärkung bis zur Zerstörung aufschaukelt. Ein Mensch in der Steinzeit konnte kein Übergewicht haben, weil er sonst zu fett gewesen wäre, um seine Beute zu Jagen. Das ist ein Beispiel von der Dominanz der negativen Rückkopplung.
  • Das System muss von quantitativen Wachstum unabhängig sein. Ein System, dass seine optimale Größe erreicht hat, muss aufhören können zu wachsen, ohne dass dabei seine Funktion gefährdet ist. Der Menschliche Körper zum Beispiel hört irgendwann auf zu wachsen und funktioniert trotzdem – ein Jahrmillionen altes und bewährtes Konzept. Unser Wirtschaftssystem hingegen muss exponentiell wachsen, um die exponentiell wachsende Zinsansprüche der Summe aller Vermögen erfüllen zu können. Wachstumsstillstand bedeutet hier den Zusammenbruch. (Anmerkung: Dieser Sachverhalt ist als der 2. Hauptsatz der Volkswirtschaftslehre lange bekannt und Stand des Wissens)
  • Das System muss funktionsorientiert und nicht produktorientiert arbeiten. Nehmen wir als Beispiel die Funktion der Fortbewegung in unserer Gesellschaft. Die Funkton der Fortbewegung bestand immer wird immer bestehen. Das Produkt, also das Fortbewegungsmittel muss aber immer offen und flexibel bleiben. Es gibt Fälle, da ist die Fortbewegung mit dem Auto oder dem Fahrrad sinnvoll, in einem anderen Fall ist auch das Gehen zu Fuß zu bevorzugen. Sich nur auf das Auto zu fixieren, würde eine Gesellschaft ihrer Funktionsfähigkeit berauben.
  • Vorhandene Kräfte werden genutzt. Die Kondoren in den Anden Südamerikas zum Beispiel warten geduldig auf die Aufwinde, die bei Sonnenaufgang einsetzen. Erst, wenn die Aufwinde einsetzen, breiten die Kondoren ihre Flügel aus und lassen sich energiesparend in die Höhe tragen.
  • Produkte und Funktionen werden mehrfach genutzt. Unsere Hände zum Beispiel sind ein Vorbild der Mehrfachnutzung einer Funktion, ihre Tätigkeiten sind äußerst vielfältig.
  • Die Stoffkreisläufe sind geschlossen. Das Wasser auf unserer Erde ist das gleiche Wasser, dass bereits die Dinosaurier getrunken haben. Die Atome, aus denen wir bestehen, sind die gleichen, aus denen schon die Dinosaurier bestanden haben. Wir Menschen vergessen das und haben unsere Technologie so aufgebaut, dass wir Rohstoffe aus der Erde entnehmen, um sie dann zum Schluss als “Müll” in Mülldeponien einzugraben, damit wir uns nicht an ihnen vergiften.
  • Die Verschiedenartigkeit von Systemen wird durch Kopplung und Austausch genutzt. Alles, was an Nebenprodukten einer Lebensform anfällt, wird von einer anderen Lebensform genutzt. Die Lebensformen sind dabei so verschiedenartig, dass sie die Nebenprodukte anderer Lebensformen nutzen können. Das führt dazu, dass Stoffe auf kleinstem Raum ohne lange Transportwege, direkt und energiesparend ausgetauscht werden können.
  • Produkte, Verfahren und Organisation entwickeln sich durch Rückkopplung. Das Prinzip der Evolution, schafft es, durch Versuch und Irrtum die komplexesten Lebensformen zu entwickeln. (Hier eine kleine Anmerkung meinerseits: Solltet Ihr einmal ein Maschinenteil mit 20 Variablen optimieren müssen, dann programmiert Euch einen Evolutionsalgorithmus. Ihr werdet Euch wundern, wie schnell der durch zufällige gleichzeitige Mutation aller Variablen zu einer optimalen Lösung führt. Man muss das gesehen haben, sonst glaubt man das nicht… )

Jeder kann sich mal überlegen, wie wir Menschen jeden Tag gegen all diese Regeln verstoßen. Da wird schnell offensichtlich, warum die meisten Menschen gegenüber den Problemen unserer Zeit völlig ratlos gegenüberstehen. Man braucht sich nur unsere “Elite” in Politik und Wirtschaft anschauen – überforderte, traurige Gestalten, die einem nur leid tun können.

Ein schönes Zitat zum Schluss

“Ich will damit deutlich machen, dass wir in unserer komplexen Welt heute kein Problem … mehr angehen sollten, ohne zuvor eine eingehende Folgenabschätzung durchgeführt zu haben. … Wie im voranstehenden Kapitel betont bedeutet das vor allem, das System, in dem das Problem auftritt, zu untersuchen und nicht nur das Problem selbst.”

[Vester, Frederik: Die Kunst vernetzt zu denken. DTV-Verlag. München, 2002. Seite 110]

Wie die Systemanalyse durchgeführt werden kann, das folgt im nächsten Blogbeitrag zu diesem Thema ;)


Weblinks